Die Polyvagaltheorie erklärt viele unserer Reaktionen auf unsere Umwelt und warum diese so unterschiedlich ablaufen können. Fast alle Menschen kennen das: Es gibt Tage, da haben wir unseren Fehler-Zoom an und sind von allem und jedem angestrengt und genervt. Die Welt erscheint uns als ein unfreundlicher und stressiger Ort. Die Herausforderungen nicht bewältigbar. Und es gibt andere Tage, da laufen wir mit einem Lächeln durch die Gegend, wir sind zuversichtlich, dass wir unsere Aufgaben bewältigen können, haben lauter gute Ideen und lächeln den Menschen, die uns auf der Straße begegnen, einfach mal freundlich zu. Die Welt ist ein guter Ort.
Was hat es eigentlich auf sich mit der Polyvagaltheorie?
Vor fünf Jahren habe ich die Polyvagaltheorie von Stephen Porges kennengelernt, und seitdem ist meine Begeisterung darüber, wie nützlich sie für die therapeutische Arbeit - aber auch in meinem Alltag - ist stetig gewachsen. Und ich bin nicht die Einzige. Noch vor 15 Jahren gab es nur wenig Aufmerksamkeit für Stephen Porges‘ Theorie und heute ist sie in aller Munde bei Menschen, die sich mit heilenden, therapeutischen oder generell Veränderung auf den Weg bringenden Themen beschäftigen.
Vielleicht ist dir auch schon der Begriff Vagusnerv auf Buchtiteln, bei you tube oder in Podcasts begegnet? Weil etwas griffiger, hat sich dieser Begriff durchgesetzt, beschäftigt sich aber im Grunde mit den gleichen Themen wie die Polyvagaltheorie. Diese wurde von Porges, einem Wissenschaftler aus den USA, bereits in den 80iger Jahren entwickelt. Deb Dana, einer Psychotherapeutin, verdanken wir jedoch den genialen und kreativen Transfer in die therapeutische Arbeit.
Die Suche nach Sicherheit und Verbundenheit
Wenn sich doch aber im Außen scheinbar gar nichts verändert hat, wie kann das sein? Was sind das für innere Zustände, die uns da begleiten? Es erscheint einleuchtend zu sagen, es sind unsere Gedanken, die unser Erleben bestimmen. Je nachdem, was unser Geist an positiven oder negativen Gedanken produziert, fühlen wir uns besser oder schlechter. Wenn wir also unsere Gedanken kontrollieren und zähmen, wird es uns besser gehen.
Die Polyvagaltheorie steuert eine andere Idee bei, die mehr auf unserer Biologie und der Evolution beruht: Unser Autonomes Nervensystem ist unablässig am „scannen“ der Umgebung: Ist es gerade sicher oder nicht sicher? Das findet mit allen unseren Sinnen, aber meistens unterhalb der Bewusstseinsschwelle statt, während wir mit unseren Alltagsdingen beschäftigt sind. Es ist ein Erbe unserer evolutionären (Säugetier-)Vorfahren, die in einer feindlichen Welt permanent um ihr Leben fürchten mussten. Je nachdem, wie die Umgebung wahrgenommen wird, steuert das Autonome Nervensystem unsere Körperreaktionen, z.B. Herzschlag, Atmung, Verdauung, Stoffwechsel. Und mit den Körperreaktionen werden unterschiedliche Gefühlszustände erzeugt. Wird die Umgebung als sicher wahrgenommen, ist alles fein, wir sind ruhig, gut gelaunt, neugierig und lernbereit und nehmen unsere Mitmenschen als freundlich und uns wohlgesonnen wahr. Wir befinden uns im sogenannten Vorderen Vagus, unserem System für soziale Verbundenheit. Unsere Körperfunktionen sind auf Ruhe und Regeneration eingestellt.
Der Sympathikus: Flüchten oder Kämpfen, aber auch Höchstleistung
Wenn das Autonome Nervensystem in irgendeiner Form Gefahr wahrnimmt, kennt es zwei unterschiedliche Reaktionen. Zum einen die Kampf- oder Fluchtreaktion, während derer in unserem Körper blitzschnell Energie bereitgestellt wird und alles Überflüssige (wie z.B Verdauung oder Kreativität) abgestellt wird.
Nun sind wir wachsam und halten nach Gefahren Ausschau, um dementsprechend mit Kampf oder Flucht zu reagieren. Unsere Umgebung erscheint uns grundsätzlich als unsicherer Ort. Dementsprechend sind auch wir nicht besonders freundlich und offen. Diese Stressreaktion wird vom Sympathikus gesteuert.
Im Sympathikus sind wir aber auch besonders leistungsfähig. Es ist immer ein bisschen sympathische Aktivierung notwendig, wenn wir in die Aktivität kommen wollen oder schwierige Aufgaben bewältigen.
Erstarrung als Überlebensmodus
Unsere individuelle Reaktion auf Stress
Die meisten Menschen haben eine grundlegende Tendenz, welche Stressreaktion bei Ihnen eher oder besonders schnell ausgelöst wird. Diese Reaktion basiert wahrscheinlich auf unseren frühen Kindheitserfahrungen.
In der Zeit der Covid 19 Pandemie und des Lockdowns konnte man das besonders gut beobachten. Es gab die eher zur Sympathischen Reaktion neigenden Menschen, die vorrangig in Aktivität und Kampfbereitschaft gingen. Menschen, die angefangen haben im Lockdown ihre komplette Wohnung zu renovieren, Online-Kurse zu besuchen, viel Sport zu machen, eine Sprache zu lernen, eventuell auch angefangen haben gegen Maßnahmen zu protestieren oder sehr aggressiv auf ihre Mitmenschen zu reagieren.
Die Menschen dagegen, die bei Gefahr eher zu Erstarrung neigen dagegen, haben sich im Lockdown vielleicht ganz zurückgezogen, viel geschlafen, viel Filme geguckt oder gelesen, einfach alle Aktivität runtergefahren. Ihre Suche nach Kontakt vielleicht sogar stark reduziert.
Es ist interessant, das einmal bei sich selbst zu beobachten: Wird eine der beiden Stressreaktionen bei mir besonders schnell ausgelöst?
Versteht unser Kopf, was uns da in Stress versetzt?
Da unsere Wahrnehmung von Gefahr unterbewusst abläuft, können wir oft gar nicht sagen, was genau wir wahrgenommen haben, was uns in Stress versetzt. Und weil unser Verstand das nicht gut leiden kann, nicht zu wissen, was los ist, erfindet er eventuell Ursachen. Gefahren sind heute nicht mehr so oft der Säbelzahntiger, der uns begegnet, sondern viel subtiler. Es kann ein übervolles E-Mail-Fach sein, eine zu lange To-do-Liste, Lärm, Hitze oder Kälte, Zeitdruck, Überreizung, Schmerzen, zu viele negative Nachrichten in den Medien oder ähnliches. Unser Verstand ist da aber oft nicht so reflektiert, denn in der Stressreaktion funktioniert er zu allem Übel nicht wirklich gut. Und beim Umherschauen entdeckt er vielleicht, dass der/die Partner:in, die Kinder irgendetwas falsch gemacht haben oder unser:e Kolleg:in oder der Mensch, der uns auf der Straße begegnet. Das nenne ich den Fehler-Zoom und wenn wir den nicht mehr abschalten können, gefährdet er vielleicht unser zweites wichtiges Bedürfnis - das nach Verbundenheit. Denn allein sind wir ungeschützt und auch das hat uns die Evolution beigebracht: Verbundenheit sichert unser Überleben durch positiven, entspannten Kontakt mit anderen Menschen. Deshalb ist der jüngste Teil unseres Nervensystems, der Vordere Vagus (der Vagusnerv), im Laufe der menschlichen Entwicklung immer wichtiger geworden . Wenn wir aber Gefahr wahrnehmen, übernehmen blitzschnell die älteren beiden Stresssysteme unseres Nervensystems und jagen uns heraus aus unserer sozialen Verbundenheit.
Es kann ebenfalls sein, unser Verstand identifiziert an für sich harmlose Dinge wie Fahrstühle, Tunnel oder Supermärkte als Gefahrenquelle, einfach weil eine starke Stressreaktion mit großer Angst dort einmal ausgelöst wurde. So erklären sich viele unserer irrational erscheinenden Ängste.
Das Stresssystem navigieren lernen
Wir müssen also lernen, unsere Stressreaktionen gut navigieren zu können, d.h. uns nach einer Wahrnehmung von Gefahr unseres Autonomen Nervensystems wieder zu regulieren und in den vorderen, sozialen Vagus zurückzukehren.
Je verunsichernder die Lebenssituation, der Druck oder die Überforderung sind, je mehr Leistung wir erbringen wollen oder müssen, desto schwieriger kann es werden, uns zu beruhigen und wir bleiben quasi stecken in unserer Kampf- oder Fluchtreaktion oder in der Erstarrung.
Mit Körperwahrnehmung und Übungen zur Regulation kann dies in der Therapie oder im Coaching wieder ins Lot gebracht werden. Oft verbessern sich unsere Beziehungen im Privaten wie auf der Arbeit, wenn wir wieder lernen, uns besser zu regulieren. Und unser Körper erhält wieder Gelegenheit zur Regeneration und Erholung.
Literatur:
- Stephen Porges ; 2017; Die Polyvagaltheorie und die Suche nach Sicherheit
- Deb Dana; 2022; Der Vagus-Nerv als innerer Anker
- Sandra Hintringer; 2022; Der Vagusnerv. Unserer innerer Therapeut.

